Chancen und Geschäftsmodelle für die Automobilindustrie.

KI generiertes Bild zur Zukunft der Verkehrswende
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Zukunft der Verkehrswende, Teil 3/3

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Chancen für die Automobilindustrie

Wie in den ersten beiden Teilen dieser Kurzserie argumentiert wurde, ist erstens das Deutschlandticket eine Totgeburt und zweitens benötigt die Verkehrswende eine Vision, die über reines Stänkern über die aktuelle Veränderungsgeschwindigkeit hinausgeht. Diese haben wir mit einer umfangreichen Diskussion des Konzepts „kostenloser ÖPNV“ im zweiten Teil vorgestellt – sowohl für städtische als auch ländliche Räume und die Strecken dazwischen.

In diesem dritten und letzten Teil der Verkehrswende-Serie möchten wir nun die Chancen und Geschäftsmodell-Ideen für die Automobilindustrie vorstellen.

In Kürze: Die Automobilindustrie ist prädestiniert für die Optimierung und den Ausbau moderner, also intermodaler Mobilität. Die Geschäftsmodell-Ideen liegen auf der Straße.

Die Vorteile der Automobilindustrie (unfair advantage)

Natürlich wird die Autoindustrie als Ganzes auch diese Disruption überstehen. Natürlich ist sie längst ideell darauf vorbereitet, denn hinter den veröffentlichten Meldungen von Volkswagen, Daimler, BMW und Co. steckt sehr viel mehr als die vordergründige Debatte um Elektro vs. Verbrenner. Man könnte die interne Stimmung der letzten Jahre in den Unternehmen mit einem Wespennest vergleichen, nachdem ein waghalsiger Junge gerade einen Birkenzweig hineingesteckt und keine Wabe auf der anderen gelassen hat. The change is real!


Meiner Einschätzung nach könnte einer der „big 3“ dieses Jahrzehnt nicht überleben (Frühanzeichen sahen wir bereits durch „feindliche Teilübernahmen“), wenn die folgenden Schritte nicht wenigstens in Teilen aufgegleist werden. Einer der drei wiederum wird sich als Sieger (möglicherweise sogar global) aus den 2020er Jahren herauskatapultieren können – jener, der zuerst ein überzeugendes, niederschwelliges Angebot für neue und alte Zielgruppen nach der CASE-Logik (siehe Teil 2 der Serie) anbieten kann.

Meilensteine der Verkehrswende für die Automobilindustrie

Die Vorherrschaft in der möglicherweise globalen Autoszene sichert sich das Unternehmen, welches möglichst viele der folgenden Punkte als erster bzw. profitabel erfüllt:

Autonomes Fahren

Wer die Vorherrschaft in der Entwicklung autonomer Fahrsysteme erlangt und auch verteidigen kann, gewinnt. Das geschieht nach einigen gescheiterten Kooperationsversuchen mit hoher Wahrscheinlichkeit doch basierend auf globalen Allianzen mit Entwicklerfirmen aus dem Zirkel von Nvidia, Mobileye, Apple und ähnlichen. Dabei geht es viel weniger um das durchschnittliche Verkehrsszenario in dichten Verkehren, sondern vielmehr um das Gegenteil.


Wer zuerst in ländlichen Gebieten serienreife (sichere!) Senioren- und Jugend-Routen mit Sharing-Diensten einführt, gewinnt. Die Zielgruppe wächst, besonders am oberen Ende der Alterspyramide. Schon heute ist mehr als jeder fünfte Mensch in Deutschland über 65 Jahre alt, von denen lebt jeder dritte in ländlicheren Regionen. Do the maths!


Natürlich sind die Menschen gegenüber selbstfahrenden Fahrzeugen noch skeptisch. Kein Wunder, medial wird in der Regel nur über Fehlschläge berichtet und gegenüber Maschinen haben wir nunmal eine 0-Prozent-Toleranz. Doch ländliche Verkehre sind übersichtlicher und die Sorgen der Menschen, nicht mehr zum Arzt, zum Supermarkt oder einfach zur Schule zu kommen, sind groß. Und sie sind Gold wert. Weniger als die reine Fahrdienstleistung wird es insofern darum gehen, das Problem der Immobilität ländlicher Regionen zu lösen und mit emotionalen Botschaften aufzuladen. Erfolgreiche Markenkommunikation ist bekanntermaßen die leichteste Übung der Automobilindustrie, also: go for it.

Exklusive Spuren – Lobbyarbeit

Aber: Selbstfahrende Verkehrsmittel auf Schnellstraßen (und Autobahnen) funktionieren erst dann, wenn diese ein ausschließliches Recht darauf haben. Wie schon beschrieben, sind andere menschliche Fahrzeugführer einfach zu gefährlich für autonome Systeme.


Ohne in den Lobby-Gesprächen zu stecken, vermute ich, dass hier bereits Anstrengungen hinsichtlich exklusiver, abgetrennter Spuren auf der Autobahn A9 laufen. Falls nicht: Attacke. Denn wir wissen alle, wie lange es dauert, bis derartige Anstrengungen mit der Vielfalt der Akteure abgestimmt sind und letztlich in Gesetzen und noch viel später in Aufstellungsbeschlüssen und schließlich in Beton landen. Sonderspuren für autonome Verkehre sind nach aktuellem Stand der Technik der einzige Weg, um hybriden Verkehr zu harmonisieren. Also nochmal: Attacke!


Autonome Verkehre in urbanen Räumen wiederum funktionieren erst dann, wenn keine Störfaktoren mehr auf die Straße laufen, fallen, springen oder fahren. Das ist natürlich schwer umzusetzen, weshalb hier eher das Stichwort Geschwindigkeitsdrosselung und/oder abgeschotteter Verkehr in Tunneln eine Rolle spielt. Hier erwarte ich eher Hybrid-Lösungen, bei denen sich die Fahrenden außerhalb der Tunnel noch selbst um die Steuerung kümmern müssen, sich auf dem Weg in den Citytunnel aber virtuell einklinken und einige Minuten aus dem Fenster gucken können.

Virtuelle Fenster

Vom letzten Meilenstein kommen, fragen Sie sich möglicherweise, wohin die Fahrgäste der autonomen Fahrzeuge denn schauen sollen?! Natürlich nicht gegen die Tunnelwand, sondern in den dann automatisch erscheinenden VR-Wald oder die neueste Netflix-Doku. Kurz vor Verlassen des Tunnels erinnert mich das System dann an die Wiederübernahme der Steuerung. Und natürlich wird in diesen hybriden screens-on-demand auch Werbung angezeigt, die eine zunehmend wichtige Rolle im Geschäftsmodell der Betreiber und Hersteller spielen wird. Werbefreie Fahrten kosten extra.

Konsequenter Fokus im F&E

Aktuell fehlt allen Automobilherstellern die klare Linie in der Antriebsdiskussion und vor allem der Umstrukturierung der internen Prozesse bei F&E, Produktion und Kommunikation. Anstatt „ein bisschen Elektro, ein bisschen Hybrid, ein bisschen E-Fuels, ein bisschen Wasserstoff“ wünschen sich auch die Verbraucher:innen Planungssicherheit, sollten sie doch noch Fahrzeuge anschaffen – das gilt natürlich auch für die Fuhrparkbetreiber.


Wer sich spezialisiert, wird mittelfristig Marktanteile an Wettbewerber einbüßen, jedoch langfristig die wachsende Nische besetzen. Mit Blick auf den ersten Aspekt tippe ich auf Wasserstoff – denn autonome Fahrsysteme werden grundsätzlich weniger nach Art kleiner, aerodynamischer Rennschlitten konstruiert, sondern nach der Kleinbuslogik. Heute fahrbares Hotelzimmer, morgen früh Schulbus. Übrigens verliert dann die Eigenmarke radikal an Bedeutung; schließlich ist es mir als Nutzer herzlich egal, wer das Hotelzimmer gebaut hat, wichtiger ist, wer mir ein schönes Erlebnis darin beschert. Damit sind wir wieder bei der Markenkommunikation: Es wird weniger der Stern, der weiß-blaue Flugzeugpropeller bzw. das VW-Emblem eine Rolle spielen, sondern die Variabilität und der Mehrwert als Baustein für die Befähigung der Menschen.

Kreislauf schlägt Wasserfall

Alle wissen es, doch kaum einer spricht öffentlich darüber: Die Aufbauorganisation von Großunternehmen ist aus der Zeit gefallen. Ist ja auch kein Wunder, die Wurzeln liegen weit vor Entdeckung der modernen Management-Theorie. Doch die Rahmenbedingungen haben sich geändert: Beschäftigte sind im Durchschnitt viel besser (aus-)gebildet, haben oft mehr Freiheitsdrang, die Außenwelt inklusive globalem Wettbewerb spielt eine zunehmend wichtige Rolle und Innovationen kommen nicht mehr nur aus der eigenen F&E-Abteilung. Und dann ist da noch der Klimawandel, der als Damoklesschwert über vielen Entwicklungen schwebt.


Insofern ist einer der zentralen Erfolgsfaktoren die konsequente Umstellung des Organisationsmodells in ein kreislaufartiges Modell, das auf einer sinnvollen Anpassung holokratischer Modelle basiert. Weniger Silo, mehr Kompetenz, weniger Stabilität, mehr Agilität.


Hinzu kommt: Jedes Produkt, das in naher Zeit auf welchen europäischen Markt auch immer gebracht wird, muss vom Hersteller auch wieder zurückgenommen und recycelt werden. Frühzeitige Partnerschaften mit Recycling-Profis in Europa sichern mittelfristige Profite und ja, auch im Marketing darf das dann als großer Schritt in Richtung „grüne“ Zukunft kommuniziert werden.

Der Autozug 2.0

Warum bewegen wir immer noch bis zu 400 Tonnen schwere Züge (ICE 3) über stählerne Schienen, was ja auch nicht gerade energiefrei abläuft? Es gibt durchaus rationale und auch ökologische Gründe, warum der Bahnsektor eher stiefmütterlich behandelt wird. Nicht alles, was mit einem grünen Schriftzug mit 300 km/h durch die Landschaft fährt, ist auch grün.


Radikal gedacht haben wir alles an der Hand, was es braucht, um virtuelle Züge aus dem Zusammenschluss mehrerer Fahrzeuge zusammenzuschalten. Ohne Zug, ohne Schiene, ohne Weiche, ohne Stellwerk, ohne Personal. Wer stellt diese automatisierte und vor allem interoperable Plattform als erstes bereit inklusive der Schnittstellen für alle Anbieter (global oder wenigstens EU-/DIN-konform)? Here we go! Diese Idee ist übrigens über 30 Jahre alt und stammt vom Vater des Autors (1934-2021). Inzwischen liegen die nötigen Technologien vor und, steile These: die ökonomische Machbarkeit ist nur eine Masterarbeit entfernt.

Mobility Center: Luftige Aussichten

Noch radikaler gedacht: Wer die Idee der Mobility Center noch nicht kennt, sollte sich mal mit Sven Lindig unterhalten. Er ist nicht nur Geschäftsführer der LINDIG Fördertechnik GmbH, sondern auch visionärer Unternehmer. Er stellt offen die Frage: Was wäre, wenn alle Kleinflugplätze (rund 600 allein in Deutschland) in ein vernetztes E-Flugzeug- und Carsharing-Konzept eingebunden wären? Wenn echter intermodaler Verkehr von der Straße in die Luft, anschließend auf die Schiene und dann für die letzte Meile wieder auf die Straße verlagert würde? Klingt groß, ist noch größer.


Wer Autos bauen kann, kann auch fliegende Autos bauen. Das ist sogar Teil der DNS eines der Big 3. Dass das funktioniert, haben andere längst bewiesen; die EU-Gesetzgebung dazu ist auf dem Weg und sieht Flugverkehr zumindest außerhalb von Ballungszentren Ende des Jahrzehnts vor. Wenigstens für Überlandverkehre macht emissionsarmer Luftverkehr sogar Sinn, sobald die Elektroantriebe noch etwas effizienter geworden sein werden. Vielleicht aber auch doch mit Wasserstoffantrieb? Der Teufel steckt im Detail.

Fazit

Die Verkehrswende in Deutschland wurde verschoben, das Deutschlandticket war ihr vorerst letzter Sargnagel. Es ist niemandem damit geholfen, mehr Menschen in überfüllte Züge auf überlasteten Strecken zu bewegen; dadurch wächst nur die Attraktivitätslücke zum motorisierten Individualverkehr mit dem eigenen oder auch geliehenen Pkw. Wer das Deutschlandticket wirklich konsequent weiterdenkt, würde im Regionalverkehr eher auf eine Lösung aus dem Kontext „kostenloser ÖPNV“ setzen – nachdem von links bis rechts fast alle Parlamentsparteien mit dem Konzept geliebäugelt haben, können nun endlich konkrete Transformationsszenarien entwickelt werden.


Zentral wird für das Gelingen jeglicher „Verkehrswende“ sein, alle beteiligten Stakeholder an den Tisch zu holen, anstatt zu versuchen, sie gegeneinander auszuspielen. Damit handelt es sich weniger um eine komplette Wende als ein Tandem. Die Grundsanierung der Bahnstrecken bis 2030 steckt den zeitlichen Rahmen: Bis dahin geht es im Wesentlichen weiter wie bisher.


Und so freue ich mich auf den Audi-Zug, autonome VW Bullis auf dem Land mit Jahresabrechnung und komplett neuen, autonomen Hotelzimmer-Shuttles, die mich auch über Nacht gemütlich zum nächsten Einsatz bringen. Vielleicht auch streckenweise emissionsfrei durch die Luft.

Foto von Etienne Girardet auf Unsplash

Anhang: Zahlen und Quellen

Schienennetz in Deutschland

Das deutsche Schienennetz ist heute insgesamt rund 33.000 Kilometer lang, 1914 waren es noch rund 63.000 km [Statista], 2000 noch 41.315 km und im Jahr 2010 mit 37.900 km immer noch mehr als heute [Statista]. Das entspricht allein in den letzten 20 Jahren einem Rückgang von 20 Prozent.

Fahrgäste im Schienen-Nah- und Fernverkehr

  • Schienen-Nahverkehr:
    • 2000: 1.740 Millionen [Quelle: Destatis]
    • 2010: 2.240 Millionen [Quelle: Destatis]
    • 2020: 1.700 Millionen [Quelle: Destatis]
  • Schienen-Fernverkehr:

Straßennetz in Deutschland

Die erste Autobahn entstand 1921. Nein, Hitler ließ nicht die erste Autobahn bauen. Alle überörtlichen Straßen zusammengerechnet sind heute 229.700 km lang [Quellen: Statista, BMDV und Wikipedia], also fast siebenmal so lang wie das Bahnnetz. Hier gab es in den letzten 20 Jahren nicht ganz so viel Bewegung, die Gesamtlänge der überörtlichen Straßen ist einigermaßen konstant.

Zugelassene Pkw

Wir stellten uns außerdem die Frage, wie viel Fläche dadurch allein durch die privat zugelassenen Autos belegt wird. Ein durchschnittlicher Pkw ist ca. 8 m2 groß [Quelle: NWZ Online]. Bei rund 48 Millionen zugelassenen Pkw kommen wir so auf eine Fläche von 384.000.000 Quadratmetern, die allein durch die Existenz von Fahrzeugen verbraucht wird. Würde man alle zugelassenen Autos nebeneinanderstellen, könnten wir damit fast ein kleines Bundesland zuparken: Die Fläche Bremens beträgt ca. 419 km².